Essay von Thomas Mittermair, Sterzing.
Denken wir zurück an eine ferne, scheinbar längst vergangene und doch herbeigesehnte, beinahe verklärte Zeit. Nein, gemeint ist nicht die Welt vor dem Sündenfall Adam und Evas. Die Rede ist von jener Zeit, in der Corona noch eine weltberühmte Biermarke war. Damals, man mag es kaum glauben und konnte dies damals kaum wahrnehmen, herrschte eine Macht – eine, die langweilig und eintönig erscheint, solange sie wirkt, und schmerzlich vermisst wird, sobald sie vom Thron gestoßen wird: die Normalität. Doch wollen wir zu eben dieser überhaupt zurückkehren?
Spulen wir ein Jahr zurück. Wir schreiben den 31. Dezember 2019: Silvester. Menschen liegen sich in den Armen, es wird geredet, geküsst, gelacht, gefeiert – und das aus gutem Grund: Der Beginn der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts steht vor der Tür. Mit Blick auf das vergangene Säkulum ist dieser positiv konnotiert: Die Roaring Twenties brachten damals Wohlstand und neuen Lebensmut, gar ein neues Lebensgefühl mit sich. Jener frische Wind war nach den schrecklichen Jahren des Ersten Weltkrieges mehr als nötig. Es gibt an Silvester 2019 also allerhand Gründe, der Zukunft positiv entgegenzublicken. Das neue Jahr beginnt aber weniger erfreulich als erhofft: Weltpolitisch spitzt sich der Konflikt zwischen den USA und dem Iran zu, in Australien wüten Buschbrände, Großbritannien tritt aus der EU aus. Und: Zunächst von kaum jemandem ernst genommen, ist in den Medien immer öfter von einem neuartigen Virus die Rede, der im chinesischen Wuhan ausgebrochen sein soll. „Panikmache, nichts weiter“ ist ein Gedanke, der durch viele Köpfe geistert, als diese Neuigkeiten durchs Land fegen. Doch es sollte alles anders kommen: Schon bald assoziieren viele Menschen das Wort Corona nicht mehr mit erfrischender Zitrone, Strand, Sonne, Feiern, Genuss und dem Zusammenkommen mit Freunden. Die Bedeutung wird im kollektiven Geist dieser Welt förmlich überschrieben – und die damit assoziierten Gefühle ins Gegenteil verkehrt: Corona heißt bald Misstrauen, soziale Distanzierung, Geldnot, Angst, Tod, Zitrone – wobei jetzt der saure, unangenehme Geschmack dieser Zitrusfrucht im Vordergrund steht. Das Kontrahieren sämtlicher Gesichtsmuskeln, das krampfhafte Schließen der Augen.
„Panikmache, nichts weiter“ ist ein Gedanke, der durch viele Köpfe geistert, als diese Neuigkeiten durchs Land fegen.
Doch etwas langsamer: Im März des frisch angebrochenen Jahres 2020 wird es plötzlich ernst. Die Medien lassen verlauten, das noch unbekannte Virus habe sich über die Grenzen Wuhans, ja gar über die Grenzen Chinas ausgebreitet und verbreite sich nun unentwegt über den Globus, ähnlich den ätherischen Ölen, die beim Anschneiden einer frischen Zitrone dem gesamten Raum einen subtilen, angenehm erfrischenden Duft verleihen. Doch die olfaktorische Wirkung von Corona scheint nicht willkommen zu sein: Staaten beginnen damit, Grenzkontrollen einzuführen, Grenzen gar völlig zu schließen. Ebenso müssen Kindergärten, Schulen und Universitäten dichtmachen. Bald schließt der Handel und viele Unternehmen. Doch damit nicht genug, auch Fußballfans bekommen Saures: Die UEFA verschiebt die EM 2020 ins nächste Jahr. Die Weltbevölkerung erlernt Widerwillens ein neues Wort, Lockdown, und die Bedeutung des Wortes Quarantäne wird vielen anhand der eigenen Erfahrung klargemacht. Das öffentliche Leben wird heruntergefahren; zum Schutz vor einer unbekannten, unsichtbaren, unfassbaren Gefahr. Masken verlassen das sterile Krankenhaus-Ambiente und werden massentauglich – oder besser: müssen massentauglich werden. Doch soll hier das Scheinwerferlicht nicht auf die verheerenden Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen auf die Wirtschaft gelenkt werden, sondern auf eine noch essenziellere, noch grundlegendere Voraussetzung für ein erfülltes Leben: die mentale Gesundheit, die Psyche, den Geist.
„Vor allem für die jungen und alten Menschen, also das untere und obere Ende der Skala des humanen Lebens, sind die Maßnahmen oftmals nur schwer zu ertragen: Eingesperrt sein im eigenen Zuhause.“
Vor allem für die jungen und alten Menschen, also das untere und obere Ende der Skala des humanen Lebens, sind die Maßnahmen oftmals nur schwer zu ertragen: Eingesperrt sein im eigenen Zuhause. Eingesperrt sein mit Familie. Eingesperrt sein ohne Freunde. Über einen langen Zeitraum ist es (nahezu) unmöglich, Kontakte außerhalb der sozialen Medien zu pflegen. So sehr die eigene Familie auch geliebt und geschätzt wird, Vater und Mutter sind einige Dekaden älter als die Kinder und Jugendlichen selbst, und so bauen sich in dieser Zeit Defizite auf. Doch damit nicht genug: Psychisch bereits stark herausgefordert, sehen sich Schüler und Studierende mit unzähligen Komplikationen und Ungewissheiten konfrontiert: So ist zunächst für Studenten unklar, wie denn der Prüfungsbetrieb in solch einer Pandemie weiterfunktionieren soll. Die Antwort im März: Er funktioniert nicht weiter. Viele Prüfungen werden zunächst auf unbekannte Zeit verschoben und versprochen wird, so schnell wie möglich an der Umsetzung von Online-Prüfungen zu arbeiten. Schüler werden unter langen Arbeitsaufträgen begraben, teilweise ohne ausreichende Unterstützung von Lehrpersonen zu erhalten und auch erhalten zu können – das anfängliche Chaos und die unbekannte, neue Situation für alle Beteiligten verunmöglichen dies. Die Jugendlichen finden sich also in einer Lage wieder, in welcher einerseits der Druck gleichgeblieben oder sich in vielen Fällen durch beispielsweise die beschriebenen Problematiken sogar erhöht hat, und die sich andererseits, auf Grund der Isolation, auf ihren Geist keineswegs fruchtbar auswirkt: Anstatt der saftigen, süßlich schmeckenden Orangen im Garten des eigenen Verstandes tauchen zunehmend mehr Zitronenbäume auf, die reichlich saure, ja gar ungenießbare Früchte tragen. Da man als Mensch die Bürde tragen muss, tagtäglich mit all dem konfrontiert sein zu müssen, was im eigenen Geist heranwächst, sinkt die Motivation der Jugendlichen. Auf der anderen Seite steigt der Frust, der Unmut und die Hoffnungslosigkeit, die allesamt durch die scheinbare Endlosigkeit der gegenwärtigen Situation ausgelöst werden. Doch richten wir nun kurz den Fokus auf jene, für deren Schutz wir all diese Maßnahmen, all diese Probleme erst in Kauf nehmen: die Risikogruppe. Denn während Covid-19 bei vielen Erkrankten einen leichten Verlauf nimmt, sind jene Menschen von diesem Virus ernsthaft bedroht. Betroffen sind insbesondere ältere Menschen. Sogar Familien fürchten, Zeit mit den älteren Mitgliedern zu verbringen – aus Angst, den Virus einzuschleppen. Dies bedeutet für sie oft Isolation. So verbringen viele von ihnen einen großen Teil ihrer Zeit allein. Im Angesicht einer weltweiten Pandemie nicht gerade dienlich, denn auch für Menschen, die mit der Erde gemeinsam die Sonne schon oft umkreist haben, ist die Situation völlig unbekannt und dementsprechend mit Ängsten, Unsicherheiten und Befürchtungen verbunden. Diese schwierige Zeit ohne echte zwischenmenschliche Kontakte verbringen zu müssen, ist für viele eine schier untragbare Last. Deshalb werden, entgegen der Rationalität, des Öfteren doch Treffen vereinbart, allerdings mit der neuen Gefahr stets im Hinterkopf, die in jeder Nase, jedem Mund und auf jeder Hand lauern könnte.
„So verbringen viele von ihnen einen großen Teil ihrer Zeit allein.“
Doch nun vom Negativen zum Positiven, von Schwarz zu Weiß, vom Dunkel ins Licht: All die Erfahrungen des vergangenen Jahres haben auch andere Seiten: so wurde vielen Menschen klar, was für ein Segen die Normalität, der ganz normale Wahnsinn, eigentlich ist. Dies gilt für Menschen aller Altersklassen: für Schüler in der Schule, Studenten an der Universität, Erwachsene im Berufsleben, Rentner. Im privaten Leben kommt man zu ähnlichen Einsichten: so ist die freie Zeit dauernd allein verbracht nur halb so wertvoll, nur halb so erfreulich. Auch, wenn sich die westliche Gesellschaft zwar immer weiter auseinanderentwickelt hat, alle Individuen immer weiter auseinandergedriftet sind und sich allein unter vielen fühlen, so musste jeder – in diesem Fall ironischerweise für sich allein – einer Einsicht den Weg freimachen und sie tief im eigenen Geist Wurzeln schlagen lassen: auch soziale Medien, das ständige, virtuelle Verbundensein mit Personen aus aller Welt und die scheinbar andauernde Erreichbarkeit können eines nicht ersetzen: echte zwischenmenschliche Interaktion. Auch wenn er sich gerne als die Krönung der Schöpfung sieht, sich selbst für seinen Verstand und seine Logik feiert und sich immer wieder selbst demonstriert, wie weit die eigene Spezies gekommen ist und wie weit sie noch kommen kann, so muss sich der moderne Mensch nun doch etwas eingestehen: er ist letztendlich nichts weiter als ein Nachfahre des Affen und damit auch vor dessen Charakteristika nicht gefeit: er ist auf den sozialen Aspekt des Lebens angewiesen. Und genau diese Erkenntnis sollten wir nun, solange die Situation prekär bleibt, weiter verinnerlichen, aufblühen lassen, um dann aus der Krise herauszufinden und eine wahre Lektion fürs Leben gelernt zu haben, mehr verstanden zu haben als die Bedeutung der Begriffe Pandemie, Lockdown, Impfung und Herdenimmunität.
Zwischen den beiden scheinbar gegensätzlichen Bedeutungen von Corona besteht – dies durften wir nun erkennen – doch ein wichtiger Zusammenhang: während der Begriff vorher für Spaß und Zusammenkommen, fürs Feiern des Lebens stand, so sollte das Wort nun eben nicht nur Angst, Wut auf politische Entscheidungen, Einschränkungen des eigenen Lebens und Düsternis im eigenen Geist, Abgründe der eigenen Seele bedeuten. Corona sollte im Zeichen einer tiefgreifenden, an Transformationspotential kaum zu überbietenden Einsicht stehen: Im Zeichen der Einsicht, welchen unermesslichen Wert das Miteinander, die Bewegungsfreiheit und letztendlich das ganz normale Leben hat. Mit dieser Perspektive im Gepäck können die Gedanken an jene Zeit, in der Corona endlich wieder für eine weltberühmte Biermarke steht, nur im Zeichen der Hoffnung, des Wiederaufbaus, der Wertschätzung füreinander und das Leben selbst stehen. Und genau dies ist die innere Lehre – und wohlgemerkt nicht die innere Leere – die wir als humane Gattung aus dieser schwierigen Zeit mitnehmen sollten. Diese Aussicht lässt hoffen. Im Gegensatz zu geöffneten Bars, zur Bewegungsfreiheit und zur Möglichkeit der sozialen Interaktion sind Hoffnung, innere Transformation und Licht nämlich Qualitäten, die sich nicht per Dekret verbieten lassen. Sie schlummern in jedem Menschen, wenn man sie denn zulässt. Übrigens ist genau Hoffnung jener magische Dünger, der im Garten des eigenen und auch des kollektiven Geistes dazu führt, dass keine sauren Zitronen, sondern erfrischend süße, saftige Orangen die gedanklichen Wege und Pfade eines jeden einzelnen säumen. Insofern bleibt nur eine Frage offen: Wollen wir denn überhaupt zur altbekannten Normalität, die so sehr vermisst zu werden scheint, zurück? Oder ergreifen wir die innere Initiative – jeder für sich – und begreifen die Pandemie als Leiter für die gesamte Menschheit, um endlich ein bewussteres, einsichtigeres, neues Zeitalter – gemeinsam, mit- und füreinander – einzuläuten und so die Orangen auf den Baumkronen pflücken zu können? Dies würde den Beigeschmack unserer Spezies in den Geschmacksknospen dieses Universums ein wenig angenehmer, süßer, lieblicher gestalten. Vielleicht nicht schlecht, denn wollen wir wohl allesamt vermeiden, wie ein ungenießbarer Zitronenkern ausgespuckt zu werden.
„Wollen wir denn überhaupt zur altbekannten Normalität, die so sehr vermisst zu werden scheint, zurück?“
Thomas Mittermair (21 Jahre alt) aus Sterzing studiert derzeit Informatik an der Universität Innsbruck. Diese Wissenschaft hat sein Interesse bereits vor einigen Jahren geweckt und lässt ihn seitdem nicht mehr los. Abseits seines Studiums beschäftigt er sich gerne mit verschiedenen nicht-technischen Themen, seine Freizeit verbringt er gerne in der Natur.