Es ist Juni und bald gibt es wieder Zeugnisse mit Beurteilungen und Bewertungen. Ja, ein zweischneidiges Schwert, diese Noten! Für mich als Lehrperson ist das jedes Semester eine Herausforderung. Und immer wieder gibt es Schülerinnen und Schüler, denen ich mit meiner Bewertung nicht gerecht werde. So verhält es sich auch im Leben, kommt mir vor.
Sehr schnell schließen wir von einer Sache auf den Menschen und stecken ihn in eine Schublade. Wir sind voller Urteile, die keine Begründung haben. Ja, wir urteilen sogar sehr oft schon im Voraus, ohne den Menschen überhaupt zu kennen. Sehr selten wird eines unserer Urteile dem anderen wirklich gerecht. Unsere Urteile, unsere Bewertungen trüben unseren Blick und sie verengen unser Herz.
Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben, was meine Mitmenschen tun oder sagen. Ich kann mir mein Urteil sparen und lernen, die anderen so anzunehmen, wie ich angenommen werden will. Ich hab ja auch meine Fehler, nicht? Auch an meinem Verhalten und Erscheinungsbild wird manches sein, das andere zu einem Urteil über mich verleitet.
Würde Gott uns so streng bewerten wie wir uns gegenseitig, wären wir wohl alle arm dran und nur wenige würden den Kurs des Lebens mit einer guten Note bestehen. Gott aber ist die Liebe und die Liebe richtet nicht und bewertet nicht. Sie verteilt keine Zeugnisse. Gott nimmt uns alle an, ohne Urteil. In Gottes Förderunterricht bietet er uns immer wieder neue Gelegenheit, die Liebe zu üben. Jesus selbst hat Handlungen verurteilt, aber keine Menschen. Er hat sich mit Freude mit jenen abgegeben, die von der Gesellschaft das schlechteste Urteil erhielten. Jesus verkörpert die Liebe Gottes auf der menschlichen Ebene; er erinnert uns daran, sie wieder zu leben, wo wir sie vergessen haben. Mahatma Ghandi sagte, Jesus habe vergebens gelebt und sei vergebens gestorben, wenn er uns nicht gelehrt hätte, unser ganzes Leben nach dem Gesetz der Liebe einzurichten.
Wenn wir jedem anderen Menschen mit einem offenen Herzen und einem klaren Blick begegnen, erkennen wir, dass wir einen gleichwertigen Partner vor uns haben. Das gilt für den Obdachlosen unter der Brücke genau wie für die Vorgesetzte bei der Arbeit, für den hochrangigen Geistlichen wie für die Putzfrau. Mit meinem Urteil über dich fälle ich zugleich ein Urteil über mich. Begegne ich dir mit Nachsicht, mit Friedenswillen, mit Liebe, erfahre ich dies selbst an mir. Du bist ich und ich bin du.
Am Ende unseres Lebens werden wir uns selbst ein Zeugnis ausstellen. Es wird nicht heißen, wie viele Menschen haben Großes von dir gehalten oder wie gut ist dein Ruf in der Welt. Es ist die Antwort auf die Frage: Wie viel hast du geliebt?
Barbara Kinzner,
Mittelschullehrerin und Vorsitzende des Pfarrgemeinderates von Gossensaß