Viele Wipptaler hat es ins Ausland verschlagen. Wie sie in ihrer neuen Heimat die Coronakrise erlebt haben, welche Auswirkungen diese auf ihr Berufs- und Privatleben hatte, wollten wir in unserer Erker-Umfrage wissen. Heute haben wir nachgefragt bei Chris Haller in München.
Ich lebe schon seit 1992 in München. Ich bin in Sterzing geboren und in Telfes an der Sonnenseite des Lebens aufgewachsen. Ja, die Coronakrise hat mich natürlich auch hart erwischt! Da ich Musiker bin, war es von einem auf den anderen Tag vorbei mit Liveauftritten.
Als ich am 19. März in München nach Hause fuhr, habe ich nicht im Traum daran gedacht, dass ich für die nächsten drei Monate meinen vier Wänden in meiner Münchner Wohnung ausgeliefert bin. Im Laufe der folgenden zwei Wochen wurde mir langsam klar, dass ich wohl keinen Liveauftritt mehr in diesem Jahr spielen werde.
In diesem Moment dachte ich daran, sofort nach Südtirol zu flüchten, um dort die Wochen der Krise bei meiner Familie zu verbringen. Für manchen Musiker war die Nachricht vom Bundesministerium, nicht mehr auftreten zu dürfen, wohl eine schockierende Erkenntnis, was den finanziellen Teil betrifft. Da ich seit 15 Jahren auch als Lehrer an der Musikschule Ismaning tätig bin, hatte ich wenigstens Aussicht auf ein monatliches Gehalt, das meine Grundkosten für die ungewisse Zeit decken wird. Weiters hatte ich einige Rücklagen gebildet. Wenigstens war ich finanziell weitgehend abgesichert, einige Zeit durch so eine Krise zu kommen. Jedoch mein Plan, nach Südtirol zu flüchten, war durch die Grenzschließung in weite Ferne gerückt. Mir blieb also nichts anderes übrig, Tag für Tag in den Keller zu gehen, um dort mein Aufnahmestudio einzuschalten und zu arbeiten. Ich habe mir vor einiger Zeit ein kleines Studio hier in München eingerichtet.
Ich erinnere mich, dass am Anfang alles leicht von der Hand ging. Ich war auch recht kreativ! Doch nach zwei oder drei Wochen stellte ich fest, dass gar nichts mehr ging. An diesem Punkt wurde mir zum ersten Mal in meinem Dasein wirklich bewusst, wie wichtig es ist, sich mit anderen Menschen kreativ auszutauschen! Nach stundenlangen Sound Tests und Kabelanschließen ging ich wie jeden Abend wieder mal alleine ins Bett und stand wieder alleine auf. Tag für Tag immer dasselbe. Ich ging wieder in den Keller und nichts passierte, fünf Stunden rein gar nichts, ich konnte es nicht glauben, dass meine Motivation so schwach war, nicht mal einen Ton auf meinem Saxophon habe ich gespielt, obwohl ich nun alle Zeit der Welt hatte. Ich versuchte auch Songs zu schreiben, aber nichts Gutes kam dabei heraus.
Drei Wochen nach dem Lockdown in München hab ich begonnen, mit meinen Schülern online Unterricht zu machen. Dies war für mich eine ganz neue Erfahrung! Ich war sehr überrascht, als ich feststellen musste, dass meine achtjährigen Schüler mit dem Computer besser zurechtkamen als die Erwachsenen.
Es verging Tag für Tag, Woche für Woche immer derselbe Ablauf! Einmal pro Woche ging ich zum Einkaufen, überall Schlangen und plötzlich auch Leute mit Masken, buh! Ich musste sehr lange anstehen und das meiste, was ich kaufen wollte, war schon aus. Alles leer gekauft, leere Regale, nicht mal Klopapier war noch vorhanden. Zu essen gab es wenigstens noch einiges, aber bei weitem nicht alles, wie wir das gewohnt waren. Musiker stehen ja nicht gerade gerne um sieben Uhr auf, um einzukaufen. Ich hatte jetzt nicht Angst oder so, aber ein mulmiges Gefühl war es schon, leere Regale zu sehen und den Leuten nur noch mit Maske zu begegnen. Ich war jetzt nie depressiv in der Zeit, aber komisch kam mir das ganze schon vor, als einige Wochen im Solo-Zustand vergangen waren. Mir hat mal einer gesagt, solange du mit den Möbeln sprichst, ist alles okay! Nur wenn die Möbel eines Tages antworten, dann hätte ich ein Problem! Gott sei Dank, ich war erst mal beruhigt, dass ich noch nicht so weit war. Ich begann im April, einen Song in meinem Studio aufzunehmen, keine Ahnung, warum mir das in den Sinn kam. Ich spielte auch nicht auf meinem Saxophon, sondern auf der Klarinette. Dass ich auf die Klarinette kam, war mir ein Rätsel, ich habe schon Jahre nicht mehr mit der Klarinette geübt. Aber es ging noch recht gut. Es handelte sich um das Lied „Danny Boy“! Ich wusste auch nicht, warum ich Danny Boy ausgewählt habe. Als ich den Song fertig aufgenommen hatte, ließ ich es wieder mit der Klarinette. Schon wieder waren einige Tage vergangen, ohne dass sich musikalisch gesehen was Wesentliches getan hätte. Eigentlich wollte ich endlich mal ordentlich Saxophon üben. Ich versuchte jeden Tag, draußen in der Stadt etwas herumzulaufen. Es war Totenstille, keine Leute, alles leer. Am Anfang hörte ich Polizei mit Lautsprechern, die die Leute aufgefordert haben, zu Hause zu bleiben. Es hat durch die Häuser so ein beängstigendes Hallen gegeben, so wie man es von Katastrophenfilmen im Kino kennt! Es war surreal! Man durfte das Haus erst eine Zeitlang gar nicht verlassen. Es war schon April und ich hörte, dass ein sehr enger Freund von mir an Corona erkrankt ist. Als er ins Krankenhaus kam, hatte ich noch Kontakt zu ihm. Erst gab es noch Hoffnung, doch dann ging alles sehr schnell. Ich erhielt am 16. April einen Anruf von seiner Frau. Sie überbrachte mir die traurige Nachricht, dass Paul Jumengit in der Nacht an Corona verstorben ist. Ich habe es erst nicht für möglich gehalten. Wir haben viele Jahre und sehr schöne Stunden auf der Bühne gemeinsam verbracht! Es war immer ein tolles Gefühl, in seiner Nähe zu arbeiten. Er war ein toller Sänger/Musiker und ein wunderbarer Mensch! Stets bescheiden! Sie erzählte mir, er sei friedlich eingeschlafen mit dem Song, den wir zusammen vor Jahren in St. Moritz live aufgenommen hatten, wobei Paul das Lied „If Tomorrow Never Comes“ gesungen hat. Plötzlich überkam mich tiefe Trauer. Paul Jumengit wurde 75 Jahre alt. Diese Trauer begleitete mich tagelang. Ich erinnerte mich wieder an die Zeit mit ihm in der Band. Später fiel mir wieder dieser Song „Danny Boy“ ein, den ich Anfang April mit meiner Klarinette aufgenommen hatte, ein sehr trauriges Lied. Ich begann nach dem Text im Internet zu suchen. Als ich fündig wurde und den Text durchgelesen hatte, wusste ich, dass ich das Lied für Paul Jumengit aufgenommen hatte.
„Danny Boy“
Oh Danny Boy, die Dudelsäcke, die Dudelsäcke rufen,
Von Tal zu Tal, und den Berghang herunter.
Der Sommer ist vorbei, und alle Rosen fallen,
Du bist's, du bist's, der gehen muss, und ich muss verweilen.
Doch kommst du zurück, wenn Sommer in den Wiesen ist,
Oder wenn das Tal verstummt und weiß von Schnee ist,
Dann werde ich da sein im Sonnenschein oder im Schatten.
Oh Danny Boy, oh Danny Boy, ich liebe Dich so sehr.
Und wenn Du kommst, und alle Blumen verwelken,
Und ich tot bin, so tot, wie ich nur sein kann,
Wirst Du kommen und den Ort finden, wo ich liege,
Und niederknien und dort ein Gebet für mich sprechen.
Und ich werde es hören, obwohl Du leise über mich trittst.
Und mein ganzes Grab wird wärmer und lieblicher sein,
Denn Du wirst dich bücken und sagen, dass Du mich liebst,
Und ich werde in Frieden ruhen, bis Du zu mir kommst.
Im Juni dann, genau am 1. Juni, durfte ich wieder nach Südtirol reisen. Als ich den ersten Spaziergang in meiner Heimat machte, war mein erster Gedanke, ich hatte nicht mehr in Erinnerung, wie schön es hier ist! Es war einfach unglaublich nach drei Monaten in der Stadt ohne Ausweg, jetzt hier frei zu sein und alles blüht!
Es war sicherlich keine einfache Zeit, drei Monate in München alleine zu sein und niemanden zu treffen, aber ich habe viel dazugelernt und weiß besser als je zu vor, wie wichtig es für uns alle ist, mit Menschen zusammen zu sein.