„Lentius, profundius, soavius“ anstelle von „citius, altius, fortius“. Langsamer, gründlicher, angenehmer anstatt immer schneller, höher, stärker – es war das Credo von Alexander Langer, dessen Todestag sich am 3. Juli 2020 zum 25. Mal jährt.
49-jährig war der grüne Vordenker, Europaparlamentarier und unerschrockene Verfechter eines friedlichen Zusammenlebens der Sprachgruppen in Südtirol, der von seiner Jugendzeit an gegen ethnische Käfige anrannte, in einem Olivenhain nahe Florenz aus dem Leben geschieden. Verzweifelt. Am Ende seiner Kräfte angelangt. Langer war Pazifist durch und durch, er eckte an mit seinen Ideen, wollte festgefahrene Bahnen durchbrechen, als die Politik im Lande mehr ein Nebeneinander denn ein Miteinander war.
Als Brückenbauer zwischen den Völkern rieb er sich politisch am Jugoslawien-Krieg auf, seine rastlosen Bemühungen zehrten ihn aus. Am Ende musste ihm diese Ohnmacht immer mehr zu schaffen gemacht haben. Wenige Tage vor seinem Freitod war er noch gemeinsam mit anderen Parlamentariern in Südfrankreich, um an die Staatschefs und Weltenlenker einen eindringlichen Appell zu richten: „Europa stirbt oder wird wiedergeboren in Sarajevo.“
Wenige Tage später lebt Alexander Langer nicht mehr. Er hat es nicht mehr „derpackt“. „I derpack’s niamer“, so sagt man bei uns im Wipptal, wenn einem die Lasten zu schwer werden. Die Lasten sind Langer zu schwer geworden, ihm, der zeit seines Lebens sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellte, Ansprüche, die ihn am Ende wohl erdrückten. „Seid nicht traurig, macht weiter, was gut war“, schrieb er in seinem Abschiedsbrief.
Geboren im Februar 1946 in Sterzing, engagiert sich Langer, überaus belesen und hochintelligent, bereits als Oberschüler am Franziskanergymnasium in Bozen, der Südtiroler Kaderschmiede, politisch als Umwelt- und Friedensaktivist, geprägt von der 68er Bewegung gleichwohl wie er damals der Marianischen Kongregation zugetan war. 1968 legt Langer an der Universität Florenz mit einer Arbeit über die Südtirolautonomie das Doktorat in Rechtswissenschaften ab, tritt in den Folgejahren in den Schuldienst ein und unterrichtet an einer Bozner Oberschule Geschichte und Philosophie.
Mit 32 Jahren wird er 1978 erstmals für die „Neue Linke/ Nuova Sinstra“ in den Südtiroler Landtag gewählt. 1983 zieht er für die „Alternative Liste für ein anderes Südtirol“ ein weiteres Mal in den Landtag ein, 1988 erhält er ein drittes Mandat.
Für die Grünen-Bewegung in Italien und Europa ist er in den 80er Jahren Wegbereiter. In Südtirol gilt er als Vater der Grünen. 1989, einem für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte entscheidenden Jahr, wird er für die italienischen Grünen ins Europaparlament gewählt und wird dort erster Vorsitzender der neugegründeten Fraktion der Grünen. Sein Einsatz gilt fortan zunehmend der Außen- und Friedenspolitik sowie den Nord-Süd-Beziehungen und der Öffnung gegenüber Osteuropa. Von 1991 bis 1994 ist Langer Vorsitzender der Europaparlament-Delegation „Albanien, Bulgarien, Rumänien“ und Mitglied der EP-Delegation „Südosteuropa“.
1994 wird er ein weiteres Mal ins Europaparlament gewählt. In all den Jahren war er auch publizistisch tätig und hat zahlreiche Schriften verfasst.
Im Friedhof von Telfes findet Alexander Langer seine letzte Ruhestätte. Heute trägt u.a. der italienische Schulsprengel in der Lahn seinen Namen. Seine Heimatstadt Sterzing erinnert damit an einen weitsichtigen Politiker und großen Weltenbürger.
Wie hätte Alexander Langer wohl den weltweiten Lockdown erlebt. Den oktroyierten Stillstand, die globale Verschnaufpause?
Im März 1990, 30 Jahre bevor eine grassierende Pandemie die ganze Welt in Atem hält, schrieb Alexander Langer einen Brief an den heiligen Christophorus, seine „Lieblingsheiligenfigur“, wie Florian Kronbichler den bärtigen Riesen nennt, der das Jesukind auf seinen Schultern über den Fluss trägt.
In diesem über weite Strecken ironisch gehaltenen Text – er ist in italienischer Sprache geschrieben – offenbart Langer sein gesellschaftliches, soziales, wirtschaftliches und (umwelt)politisches Credo. Der Text hat auch heute, 30 Jahre nach seiner Abfassung, nichts von der einstigen Brisanz und Aktualität verloren. Ganz im Gegenteil. Er trifft die Befindlichkeiten vieler, spricht nicht wenigen geradezu aus dem Herzen.
Denn an die Stelle eines ungebremsten „citius, altius, fortius“, eines immer „schneller, höher, stärker“ wird hier ein „lentius, profundius, soavius“ gesetzt. „Langsamer, gründlicher, angenehmer“ – wir alle haben diesen Lebensstil in der uns aufgezwungenen Ausgangssperre verspürt. Erfahren müssen. Wohl oder übel.
Das bislang oft lediglich diffus verspürte Gefühl des „So kann es nicht ewig weitergehen“ brach mit einem Mal wolkenbruchartig über uns herein und hat sich wie in einem Brennglas über uns gestülpt: Ein weiter so wie bisher – es wird nicht unbegrenzt möglich sein. Die vergangenen Monate haben uns gezwungen, uns dies bewusst zu machen.
lg
1.3.1990
„Lieber heiliger Christophorus,
ich weiß nicht, ob Du Dich an mich erinnerst, so wie ich mich an Dich erinnere. Ich war ein Bub, der Dich an der Außenwand vieler kleiner Bergkirchlein aufgemalt sah. Ein Riese, groß und stark, mit Bart und alt, trugst Du auf Deinen Schultern das Kind von einem Ufer zum andern, und man spürte, dass es Dir größte Anstrengung und Freude zugleich war.
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Warum ich mich an Dich wende, an der Schwelle des Jahres 2000? Weil ich denke, dass sich heute viele von uns in einer ähnlichen Situation wie der Deinen befinden und dass die Überquerung, die vor uns liegt, ungleiche Kräfte erfordert, ähnlich wie Dir Deine Aufgabe in dieser Nacht erschienen sein muss, zweifelnd, es zu schaffen. Und dass Dein Abenteuer ein Gleichnis von dem sein kann, was vor uns liegt.
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Alles wurde machbar: von der interplanetaren Reise bis zur mörderischen Perfektion von Auschwitz, vom Kunstschnee bis zum Bau und der willkürlichen Manipulation des Lebens im Labor.
Das Motto der modernen Olympischen Spiele ist zum höchsten und universellen Gesetz einer Zivilisation in unbegrenzter Expansion geworden: Citius, Altius, Fortius, schneller, höher, stärker, man muss produzieren, konsumieren, sich bewegen, erziehen ... kurzum konkurrieren. Das Rennen um „mehr“ triumphiert ohne Scham, das Modell der Wettbewerbs ist zur alleinigen Matrix eines Lebensstils geworden, der unumkehrbar und unbändig erscheint.
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Der Kern der bevorstehenden Reise ist wahrscheinlich der Übergang von einer Zivilisation des „Immer mehr“ zu einer des „Es kann genügen“ oder „vielleicht ist es schon zu viel“. Nach Jahrhunderten des Fortschritts, in denen Wachstum der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und der irdischen Hoffnungen waren, mag es tatsächlich ungleich erscheinen, an „Regression“ zu denken, d.h. den Wettlauf des citius, altius, fortius umzukehren oder zumindest zu stoppen. Ist er doch selbstzerstörerisch geworden. ...
Wir müssen uns daher wieder Grenzen setzen ... Schwer zu akzeptieren, schwer zu tun, schwer zu sagen.
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Trotzdem wird es genau das sein, was von uns verlangt wird, sowohl aus Gründen der Gesundheit des Planeten als auch aus Gründen der Gerechtigkeit.
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Deshalb bist Du mir in den Sinn gekommen, heiliger Christophorus: Du bist jemand, der in der Lage war, seine körperliche Stärke zu zügeln und einen Dienst von geringem Ruhm angenommen hat. Du hast Dein großes Erbe an Überzeugung, Stärke und Selbstdisziplin in den Dienst einer scheinbar bescheidenen Sache gestellt.
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Die Angst vor einer ökologischen Katastrophe ... wird nicht ausreichen, um uns zu überzeugen, die Richtung zu ändern. ... Der Verzicht auf Stärke und die Entscheidung, sich in den Dienst des Kindes zu stellen, bieten uns ein schönes Gleichnis von der heute benötigten „ökologischen Umstellung“. |