Besonders in Zeiten der Krise, wenn die scheinbar so heile Welt aus den Fugen gerät, sucht der Mensch Halt im Glauben. Im Gespräch mit dem Erker erklärt Markus Moling, Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, dass auch die schwierigsten Zeiten eine Chance sind und man sich die Hoffnung nicht nehmen lassen sollte.
Erker: Herr Moling, wie erleben Sie gerade die Situation? Nicht nur in physischer Hinsicht, was beispielsweise die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und das Kontaktverbot betrifft, sondern auch als Theologe?
Markus Moling: Mein Alltag hat sich natürlich sehr verändert. Die verschiedenen Arbeitsfelder, die mit Menschen zu tun haben, sind sehr eingeschränkt und ich bin nun stark an das Haus gebunden. Sämtliche Außenkontakte laufen nur mehr telefonisch oder über Internet, was natürlich ein große Umstellung ist. Als Theologe muss ich feststellen: Gott als Schöpfer, der die Welt erhält und den Lebensweg mit uns geht, hat das zugelassen — weshalb ich diese Pandemie nicht als Strafe Gottes sehe und ich würde auch davor warnen, die derzeitigen Ereignisse in diesem Kontext zu sehen. An diesem Punkt angelangt muss ich mir aber auch die Fragen stellen: Was will Gott uns in dieser Zeit sagen? Was heißt das jetzt konkret für mein Leben? Was kann das konkret für unsere Gesellschaft heißen? Was uns wiederum zu der Frage führt: Was steckt als Botschaft für unseren weiteren Lebensstil dahinter? Nicht nur für unseren persönlichen Lebensstil, sondern auch für unsere Gesellschaft insgesamt. Zurzeit stecken wir aber noch mitten in der Bewältigungsphase. Nach der Krise, so würde ich es mir zumindest wünschen, sollte man sich diesen Fragen in Ruhe stellen. Ich glaube, dass diese Krise auch ein Prüfstein für unsere Solidarität ist — sowohl auf nationaler, europäischer als auch internationaler Ebene. Ob etwas hält, kraftvoll und gut ist, erlebt man ja vor allem in Krisenzeiten. In solchen Momenten erkennt man, was trägt und wesentlich ist.
Ein weiterer Aspekt ist, dass uns als Menschen wieder bewusst wird, dass wir sterblich sind, dass wir nicht alles in der Hand haben. Durch die technischen Erfolge der vergangenen 100 Jahre ist der Eindruck entstanden, dass der Mensch alles im Griff hat, alles machen kann, alles gestalten kann und jetzt machen wir plötzlich die Erfahrung, dass dem nicht so ist. Wir erleben eine Situation, die meine Generation und die Generation meiner Eltern in der Weise noch nie erlebt haben. Die Ältesten unter uns erinnern sich vielleicht noch an kriegsähnliche Zustände, von denen wir zwar Gott sei Dank weit entfernt sind, aber trotzdem erleben wir eine Situation, die wir nicht kannten. Diese trügerische Sicherheit, der Glaube, dass der Mensch alles in der Hand hat, wird durch diese Krise sehr stark erschüttert. Wir werden mit Krankheit konfrontiert, wir werden mit Tod konfrontiert, wir werden auch mit der Angst um das Sterben und das Kranksein konfrontiert und damit werden die wunden Punkte offengelegt — das kann uns alle demütiger machen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir eben nicht alles in der Hand haben, sondern auch schwache, bedürftige und sterbliche Menschen sind.
Unsere westliche Zivilisation handelt so, als wäre es ihr gelungen, den Tod abzuschaffen. Mit voller Wucht treffen uns die Bilder, die Todeszahlen. Hat unsere Gesellschaft es verabsäumt, sich mit der Sterblichkeit auseinander zu setzen?
Das Thema ist ja immer präsent, aber nicht in der Öffentlichkeit. Menschen sind immer gestorben, aber ich habe den Eindruck, dass es in unserer Gesellschaft eine gewisse Angst gegeben hat, den Tod offen zu thematisieren, sodass er in den privaten Bereich abgedrängt wurde. Auf der anderen Seite wird der Tod, durch Darstellungen in Film und Fernsehen, auf eine gewisse Art und Weise banalisiert. In diesem Moment werden wir mit der harten Realität konfrontiert und das erschreckt uns, es macht uns noch einmal bewusster, dass wir sterblich sind. In dieser Erkenntnis kann uns der Glaube an den Gott des Lebens Kraft geben; wir dürfen darauf vertrauen, dass die Lebensmacht Gottes auch in dieser Situation Menschen trägt. Das heißt nicht, dass Gott ein automatischer Gott ist, der, wenn wir brav bitten, uns von der Krankheit befreien wird — aber wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott auch in den schwierigsten Momenten des Lebens gegenwärtig ist. Das schöne Gebet, der Psalm 22, den Jesus am Kreuz spricht, beginnt mit einer Klage „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, es endet dann aber mit der Lobpreisung Gottes. Jesus macht die Erfahrung der Gottesferne stellvertretend für uns alle: Er klagt an. Aber sogar noch in dieser Situation vertraut er auf den Gott des Lebens. Gerade zu Ostern, wo wir die Auferstehung Christi feiern, ist das eine starke Botschaft.
In der Not lernt jeder beten, lautet ein alter Spruch. Nehmen Sie eine zunehmende Hinwendung der Menschen zum Glauben war?
Es gibt natürlich Menschen, die sich an uns wenden und mit denen wir Fragen des Glaubens erörtern. Für Menschen, die den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und auch die sakramentale Nähe gewohnt sind, stellt die Situation jetzt eine besondere Herausforderung dar. Ich möchte an dieser Stelle aber zwei wichtige Punkte festhalten: Die Nächstenliebe besteht zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich darin, die Vorgaben einzuhalten und sich gegenseitig zu schützen. Auch das Gebet ist etwas ganz Wichtiges, es ist ein in Beziehung treten mit Gott und das kann ich jetzt in der Familie, in der Hausgemeinschaft oder auch als Einzelner tun. Letzteres sehe ich als Chance, dies wieder neu zu entdecken. Denn gerade in diesen Tagen haben wir die Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten und mit ihm zu sprechen. Wenn ich mich mit Firmlingen unterhalte, nehme ich immer das Beispiel der vielen WhatsApp und SMS, die man täglich verschickt. Wenn wir nur einen geringen Teil dieser Zeit für ein Gespräch mit Gott nutzen, dann ist das sicherlich sehr wertvoll. Eine Freundschaft mit Gott ist wichtig, sie trägt, aber so wie ich eine Freundschaft mit anderen Menschen pflegen muss, so braucht auch die Freundschaft mit Gott Zeit, und die Zeit dafür ist das Gebet. Ob ich nun einen Rosenkranz bete oder ob ich mit Gott spreche, das sei jedem Einzelnen selbst überlassen.
Wie Landeshauptmann Arno Kompatscher in einem seiner Statements zur Corona-Krise erklärte, geht es im Prinzip um Mathematik und Biologie. Vermissen Sie in den Entscheidungsprozessen, die den Virologen und Statistikern überlassen wurde, eine ethische Position? Beispielsweise wenn es darum geht, dass sich Angehörige nicht von einem Sterbenden verabschieden können?
Ich denke, dass wir alle, die gesamte Gesellschaft von den derzeitigen Ereignissen, dem plötzlichen und massiven Auftreten des Coronavirus überfordert sind. Wir hatten nicht genügend Zeit, uns vorzubereiten und das Ganze auch ethisch ausreichend zu reflektieren. Die Fragen, die sich zum Teil jetzt stellen, die hat es vorher in der Weise nicht gegeben, von daher wird man meines Erachtens erst allmählich, wenn sich die Situation wieder beruhigt hat, ausreichend reflektieren können. Wir befinden uns jetzt in einer Art Ausnahmezustand, wo es darum geht, möglichst viele Menschenleben zu retten, ohne dabei Grundprinzipien der Humanethik über Bord werfen zu müssen. Wichtig ist es vor allem jene zu schützen, die im sanitären Sektor tätig sind. Denn ohne ihren Dienst können wir diese Krise nicht bewältigen. Besonders herausfordernd finde ich die Situation, dass Menschen einsam sterben und dass auch die Verabschiedung nur beschränkt möglich ist. In all dem wächst aber auch die Solidarität, entstehen neue Bewältigungsstrategien und wertvolle Initiativen, im Rahmen des Möglichen auch kirchlich würdevoll Abschied zu nehmen.
In Momenten wie diesen, müssen wir uns auch auf die Experten verlassen, die uns sagen, wie sich die Krankheit ausbreitet und welche Vorsichtsmaßnahmen wir treffen müssen, um Leben zu schützen. Das ist meines Erachtens derzeit das Wichtigste und das Entscheidende: Wir sind alle gefordert, die Risikopatienten zu schützen, indem wir versuchen, diese Maßnahmen mit Sorgfalt einzuhalten.
Welchen ethischen, reflektierenden Zugang, wenn man auf das Danach blickt, würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass wir erkennen, dass wir eine Gesellschaft und eine Gemeinschaft sind. Wir sind nicht getrennt in Wirtschaft, Gesundheit und Politik, sondern es geht immer um dieselben Menschen und wir sind eine Menschheitsfamilie. Man spricht ja auch vom sogenannten Gemeinwohl und ich glaube, was in dieser Krise besonders deutlich wird, ist, dass das Gemeinwohl letztlich nur erzielt werden kann, wenn alle diese unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft zusammenwirken und wenn nicht ein Bereich über die anderen dominiert. Es braucht ein Miteinander der Gesellschaftsbereiche und in diesem Zusammenhang könnte von dieser Krise auch der Impuls ausgehen, dass wir mehr Miteinander pflegen sollten auch im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der Gesellschaft, im Vorbereitetsein auf mögliche weitere Krisen und dass es uns gelingt, trotz schwierigster Situationen, Menschen der Hoffnung zu bleiben. Hoffnung hat immer mit dem Vertrauen auf eine gute Zukunft zu tun, und diese Hoffnung sollten wir uns nicht nehmen lassen, denn diese Hoffnung ist auch eng mit dem Glauben verbunden.
Um auf die Zusammenarbeit über die Gesellschafts- und Landesgrenzen zurückzukommen, hat man bisweilen den Eindruck, dass sich hier Gräben auftun. Wo ist der Geist des gemeinsamen Europas?
Eine Krise, wie wir sie derzeit erfahren, zeigt letztendlich immer nur auf, wie etwas ist oder wie etwas funktioniert, sie deckt Schwachstellen in einem System oder einer Gemeinschaft auf. Das merkt man zurzeit daran, dass die Europäische Union mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Aber auch hier würde ich es als Chance sehen, das Gemeinsame noch einmal in den Fokus zu rücken und eine gemeinsame Strategie für Europa zu finden. Das hängt natürlich vor allem von den Politikern ab, aber ich halte es zum jetzigen Zeitpunkt für falsch, über die EU zu schimpfen bzw. sie zu verteufeln. Damit ist zurzeit niemandem geholfen, das würde nur die nationalistischen Kräfte wieder stärken und das wollen wir sicherlich nicht.
Glauben Sie, dass unserer Gesellschaft durch diese Krise eine Veränderung zum Besseren gelingen kann?
Dazu fällt mir spontan der deutsche Philosoph Immanuel Kant ein, der die Frage aufgeworfen hat, ob sich der Mensch zum Guten verändern kann. Kant sagt, dass große Krisen wie Revolutionen oder Kriege immer Denkbewegungen auslösen und Menschen zum Nachdenken bringen, über ihr eigenes Leben und über die Gesellschaft insgesamt. In diesem Nachdenken steckt die große Möglichkeit, dass sich eine Gesellschaft verändert, und zwar zum Besseren hin. Diese Chance würde ich auch jetzt sehen, vor allem dann, wenn wir nicht sofort wieder zur Tagesordnung zurückkehren, sondern eben auch das, was jetzt aufgebrochen ist an Fragen, Überlegungen und Schwachstellen, versuchen als Einzelne, aber auch als Gesellschaft zu analysieren. Beginnen muss es immer beim einzelnen Menschen, da kann man nicht nur die Politiker in die Verantwortung ziehen, es ist schließlich immer auch eine Frage, die mich persönlich betrifft. Jeder kann sich jetzt fragen: Was hat diese Krise in mir bewirkt? Wie kann ich mein Leben dementsprechend ändern oder verbessern?
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