In Krisen zeigt sich der Charakter eines Menschen, wie es so schön heißt. Naheliegend deshalb die Frage nach der Zivilcourage. Ist Zivilcourage, wenn man wie Ärzte, Pflegepersonal oder Verkäufer trotz der Gefahr zur Arbeit geht, um das System, auf dem unsere Gesellschaft fußt, aufrecht zu erhalten? Ist es, wenn man Fragen stellt, zu seiner Meinung steht? Oder wenn man ohne zu hinterfragen, sich hinter die Entscheidung der Politiker stellt? Bedeutet Zivilcourage, jene zu denunzieren, die sich nicht an Regeln halten? Bedeutet Zivilcourage, jene Regeln zu brechen, die den von der Politik vielbemühten Hausverstand zuwiderlaufen?
Der Erker hat verschiedene Persönlichkeiten befragt, was sie über das Thema Zivilcourage in Zeiten von Corona denken. Heute und in den kommenden Tagen werden wir die gesammelten Kommentare und Interviews veröffentlich und bitten auch Sie, liebe Leser, um Ihre Meinung. Was bedeutet aus Ihrer Sicht Zivilcourage? Die interessantesten Kommentare und Beiträge dazu, die Sie entweder direkt auf unserer Facebook-Seite unter dem Beitrag posten oder an info@dererker.it schicken können, werden in der nächsten Erker-Ausgabe veröffentlicht.
„Brauchen eine Globalisierung der Menschenwürde“
von Hans Widmann
Mir bzw. uns ist es ergangen, wie den meisten Menschen in der westlichen Hemisphäre. Wir haben recht leichtsinnig gar nicht daran gedacht, dass es auch uns erwischen könnte. Insofern mache ich auch niemandem einen Vorwurf, dass man zu spät reagiert hätte. Die letzte Pandemie, die auch Europa schwer getroffen hat, die spanische Grippe, hat vor 100 Jahren gewütet. Ebola ist an Europa vorbeigegangen. Nicht einmal die professionellen Epidemiologen haben diesen gesundheitsgefährdenden Tsunami rechtzeitig als solchen erkannt. Deshalb sollten wir mit Vorwürfen sehr zurückhaltend sein. Unsere Ärzte, unser Pflegepersonal hat mit den zur Verfügung stehenden Mitteln sowieso Wunder vollbracht. Sie alle hatten keine spezifische Erfahrung mit den Auswirkungen einer Pandemie, wie sie auch die Gesundheitsmanager und die Politiker nicht hatten, höchstens eine theoretische.
Zum Zeitpunkt der für alle vorgeschriebenen Quarantäne waren wir in Bozen und sind dort geblieben. Für einen eher aktiven Rentner habe ich mich anfangs ganz unproblematisch daran gewöhnt. Keine Sitzungen mehr, kein Stadtrundgang, kein Plausch mit Freunden bei einem Glas Wein. Bei uns ist Ruhe eingekehrt, die wir auch genossen haben. Ein ruhiges, bedächtiges Leben. Es blieb viel Zeit für Dinge, die man ansonsten vernachlässigt hat. Meine Bibliothek wartete schon lange auf eine ordnende Hand. Überraschender Weise hatte ich das Gefühl, dass die Zeit schnell verrinnt. Das schöne Wetter vervielfachte die Balkonaufenthalte. Allerdings wurde mir dabei bewusst, dass es für viele Familien schwierig sein muss, so lange aufeinander zu verbringen, ohne Möglichkeit des Rückzuges für den einzelnen. Wenn man weiterdenkt, dann listen sich eine Menge Probleme auf, die eine solche Quarantäne mit sich bringt: kleine Wohnung, Sorge um das Einkommen, Verlust der sozialen Kontakte, Sorge um die schulische Entwicklung der Kinder. Diesbezüglich stellt sich ganz eindeutig auch die Frage der Chancengleichheit, auf die ständig und unabhängig von Krisen hingearbeitet werden muss. Ein großes Problem stellt die Kinderbetreuung dar, wenn Papi und Mami arbeiten müssen. Es ist ein strukturelles, ein finanzielles, ein schutzbedürftiges, ein pädagogisches und insgesamt ein familiäres Problem. Dieser Problematik muß die Politik ein großes Augenmerk schenken.
Empört war ich über manche Aussagen, die meinten, dass man die 60-jährigen in Pension und die Alten allesamt in eine lange Quarantäne schickten sollte, damit andere sich frei bewegen können. Eine solche generationenfeindliche Maßnahme wäre mittelfristig wohl eine amtlich verordnete Sterbehilfe gewesen!
Diese Pandemie bringt vieles in Diskussion. Zu aller erst zeigt sie auf, dass das Gesundheitswesen kein geeignetes Gebiet für schnelle Einsparungsentscheidungen ist. Seit langem wird auch bei uns gerade dort gespart. Das Gesundheits- und das Sozialwesen sowie der öffentliche Dienst waren seit Jahrzehnten Angriffsflächen der Wirtschaft und wirtschaftshöriger Politiker. Dort sahen sie Verschwendung und folglich höchste Zeit für Sparmaßnahmen. Nach Otto Saurer wurde zügig gespart.
Nun kommt es darauf an, die nötigen Strukturen, das nötige Personal (hat schon vor der Krise Großes geleistet), technisches Gerät bereitzustellen, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Gottseidank gibt es die kleinen Krankenhäuser noch. Jetzt sind sie erst recht aufzuwerten. Wenn man die Gesamtentwicklung der Welt und Zukunftsszenarien betrachtet, kann man sich darauf einrichten, dass Epidemien und Pandemien keine hundertjährigen Seltenheiten bleiben werden.
Wir Europäer sind gut beraten, wenn wir die Entwicklungshilfe verstärken und so ausrichten, dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Dazu braucht es Bildung, Arbeit, ein starkes Gesundheits- und Sozialwesen. Ansonsten blühen uns fortwährende Völkerwanderungen. Bevor sie verhungern und an Seuchen sterben, werden sie zu uns kommen.
Unsere Wirtschaft hat einen tiefen Schock erlitten und mit ihr die Arbeitnehmer, dessen Auswirkungen wir wohl erst noch später erleben und erleiden werden. Was vorher kaum möglich war, hat auf einmal funktioniert, die Büroarbeit von zuhause aus. Auf jeden Fall wird das Homeworking und die Digitalisierung einen kräftigen Schub bekommen. Auch anderweitig werden die Betriebe versuchen, sich kostengünstiger aufzustellen, schließlich müssen sie die Schäden und eventuelle neue Kredite abarbeiten. Der „Over-tourism“ dürfte für längere Zeit nicht mehr im Mittelpunkt der Diskussionen stehen. Anerkennen müssen wir, dass die Tourismuswirtschaft ein großer Arbeitsplatzbeschaffer ist, im Fremdenverkehr, im Handwerk, im Handel, in den Dienstleistungen. Deswegen müssen wir hoffen, dass er sich bald wieder aufrappeln kann, in den Grenzen, die ihm, uns allen und der Umwelt gut tun.
Ich befürworte die mutige vorzeitige Öffnung der wirtschaftlichen Aktivitäten durch die Landesregierung. Erstens ist es ein Beharren auf die autonomen Zuständigkeiten. Außerdem brauchen die Betriebe und die Arbeitnehmerschaft neue Aussichten. Schließlich sollen die Betriebe nicht nur überleben und sich wieder stabilisieren und Arbeitsplätze erhalten und sie sollten irgendwann auch wieder Steuern zahlen, damit das Gemeinwesen funktionieren kann. Sollte sich im nächsten Jahr der neuerliche Aufschwung tatsächlich einstellen, so wird es doch eine lange Durststrecke sein, bis wir zu einer wirtschaftlichen und sozialen Normalität zurückkehren, was für Südtirol eigentlich Vollbeschäftigung bedeuten würde, aus der wir von heute auf morgen, verbunden mit vielen Risiken und Unsicherheiten, herausgerissen wurden.
Im Zusammenhang mit der Wirtschaft wird wohl weltweit auch überlegt werden müssen, ob die Globalisierung nicht neu überdacht werden muss. In gewissen Maßen ist sie zwar auch Entwicklungshilfe, weil sie weltweit Beschäftigung gebracht hat, mit der traurigerweise auch Ausbeutung einhergeht. In den Ursprungsländern sind zudem die Einkommen der Arbeitnehmer konditioniert worden. Heute „entdecken“ wir, wie sehr wir von China, der „Werkbank der Welt“, abhängen. Systemrelevante Produkte für unsere Gesundheit lassen wir in China produzieren. Heute hilft uns China noch damit. Wenn China als neue Weltmacht morgen anders entscheidet und einen Gesundheitskrieg oder einen Handelskrieg entfacht? Die weltweite Vernetzung der Wirtschaft ist nicht mehr wegzudenken. Wir brauchen eine neue Globalisierung, eine der Menschenwürde, eine der gerechten Verteilung, eine des Umweltschutzes. Diese Herkulesreform muss die EU angehen. Diese kann weder von den USA noch von China erwartet werden.
Neben der Nothilfe, der Solidarität der EU, die an allen Ecken und Enden von ihr erwartet wird, muss sich die EU ihrer Werte besinnen und sie muss sie als Alternative zum Neoliberalismus durchsetzen. Dann spüren die Menschen den Geist, der von der EU ausgeht.
Die Landesregierung hat sich anfangs zaghaft und unsicher der Krise und der Alarmstimmung entgegengestellt. Doch bald hat sie mutige Entscheidungen getroffen, bis hin zum besagten Landesgesetz. Die Regierung in Rom ist auch von der Krise überrascht worden. Mit der Einschränkung gewohnter Freiheiten hat sie sich gegen die Ausbreitung gestemmt, aber auch demonstriert, wie schnell solche Freiheiten verloren gehen können.
Schlussendlich ist es, verbunden mit dem ritualen Chaos, dass alle alles besser wissen, und mit dem heroischen Einsatz der Ärzteschaft und des Pflegepersonals gelungen, der Krise Herr zu werden. Präsident Conte konnte zwar die Eurobonds nicht durchsetzen, seine Sturheit hat, gemeinsam mit anderen, doch dazu geführt, dass die europäische Hilfe recht beträchtlich ausfallen wird. Schändlich finde ich das Spiel der Opposition und des oppositionellen Regierungspartners Renzi, die bei jeder Gelegenheit versuchen, der Regierung ein Bein zu stellen, in einer Zeit, in der wir schon Krise mehr als genug haben.
Viele vermuten oder glauben zu wissen, dass diese Krise die Welt und unsere Gewohnheiten nachhaltig ändern wird. Während der Ausgangssperre habe ich auch abgewogen, was ich vermisse und was nicht. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Aber jeder Nachteil hat auch seine Vorteile. Warten wir’s ab.