Eines ist während der Corona-Pandemie sehr deutlich geworden: Sozial- und Gesundheitsberufe zählen zu den systemrelevanten Berufsbildern. Im Interview mit dem Erker spricht Marta von Wohlgemuth, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Sozialberufe, offen über die derzeitigen Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen der Impfpflicht.
Interview: Astrid Tötsch
Erker: Frau von Wohlgemuth, während der Pandemie sind viele Mitarbeiter der Gesundheits- und Sozialberufe an ihre Grenzen gegangen. Wie ist allgemein die Stimmung?
Marta von Wohlgemuth: Wir sehen erschöpftes Betreuungspersonal, welches in den verschiedenen Sozialdiensten und Seniorenwohnheimen des Landes die Betreuung und Versorgungen der Anspruchsberechtigten Menschen gewährleistet hat und noch immer gewährleistet. Manche haben bereits das Handtuch geworfen, weil sie Belastungsgrenze er-reicht haben. Es stellt sich die Frage, wie lange halten sie diesen Druck noch aus und wann gelangen sie an die Grenze der Belastbarkeit und kann es sich die Gesellschaft leisten, die Mitarbeiterinnen der genannten Dienste „ausbrennen“ zu lassen.
Zu Beginn der Pandemie im Vorjahr gab es viel Applaus und wir wurden zu Heldinnen hochstilisiert, dann ist es aber wieder still geworden und außer der Auszahlung der Covid-Prämie im November des Vorjahres hat sich nicht viel getan. In die Schlagzeilen kommen die Mitarbeiterinnen heute nicht mehr, weil sie während der Covid-Pandemie viel geleistet haben und immer noch leisten, sondern weil die Impfbereitschaft nicht die war, die man sich erwartet hat.
„In die Schlagzeilen kommen die Mitarbeiterinnen heute nicht mehr, weil sie während der Covid-Pandemie viel geleistet haben und immer noch leisten, sondern weil die Impfbereitschaft nicht die war, die man sich erwartet hat."
Einige Angehörige der Sozial- und Gesundheitsberufe werden nun gescholten, weil sie sich – aus den unterschiedlichsten Gründen – weigern, der Impfpflicht nachzukommen. Wie schätzen Sie die Auswirkungen ein?
Es kam, wie es kommen musste: Der Zorn richtet sich jetzt gegen die Mitarbeiterinnen aus den Gesundheits- und Sozialberufen, welche der Impflicht noch nicht nachgekommen sind. Deshalb ist es uns wichtig, Unzulänglichkeiten des Draghi-Dekretes aufzuzeigen und auf Schwierigkeiten hinzuweisen. Die Impflicht wird von den Gesundheits- und Sozialberufen in den stationären und teilstationären Einrichtungen eingefordert, sie müsste aber für alle dort arbeitenden Berufsgruppen gelten. Laut Gutachten des Landes bezieht sich die Impfpflicht nur auf die stationären und teilstationären Dienste und Einrichtungen des Landes, die ambulanten Dienste im Lande sind von der Impfpflicht befreit. Das ist weder verständlich noch nachvollziehbar. Weiters sind auch jene Berufsbilder von der Impfung befreit, die auf Staatsebene nicht bekannt sind, weil im Bereich des Sozialen das Land Südtirol die primäre Kompetenz hat. Dieses Szenario hat zu einer Verunsicherung und Spaltung geführt und gar manche aus den Gesundheit- und Sozialberufen haben jetzt eine Grenze gezogen und sich nicht impfen lassen. Die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie durch das Impfen muss eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung sein und werden und darf nicht nur von den Gesundheits- und Sozialberufen geschultert werden. Es gibt Pflege-und Sozialfachkräfte, die suspendiert werden, es gibt einige, die dem Beruf den Rücken kehren und sich neu orientieren.
Man vernimmt kaum Kritik aus den Reihen der Pflege- und Sozialfachkräften – vielleicht mag der Eindruck auch täuschen – aus Angst? Provokant gefragt: Bräuchte es einen lauten Knall, damit sich endlich etwas ändert?
Es gab und gibt Kritik! In den verschiedene Medien wurde immer wieder berichtet, auch wir als Landesverband der Sozialberufe haben uns immer wieder zu Wort gemeldet. Tatsache ist, dass jegliche kritischen Anmerkungen, welche von außen kommen, nicht gehört wird und einfach abprallt. Das hat zur Folge, dass sich die Mitarbeiterinnen mir ihren Sorgen und Ängsten alleine gelassen fühlen, sich zurückziehen, anpassen, aufgeben oder eine Grenze ziehen und aussteigen. Wahrscheinlich muss die Situation einfach mal eskalieren, der nächste Herbst und mit ihm steigende Infektionszahlen kommen bestimmt. Dann werden Mitarbeiterinnen, die aufgrund von Suspendierungen kaum Urlaub machen konnten und die Situation der fehlenden Mitarbeiterinnen kompensiert haben und kompensieren werden, weiterarbeiten, welche Folgen das hat, muss nicht mehr erklärt werden
„Der nächste Herbst und mit ihm steigende Infektionszahlen kommen bestimmt."
Derzeit wird am Landessozialplan gearbeitet. Laut Landesrätin Waltraud Deeg wird in den kommenden Jahren nicht nur die Anzahl der zu betreuenden Senioren steigen, sondern man rechnet mit einem Anstieg des Bedarfs an Pflegekräften bis 2030 um 15 bis 20 Prozent – das ist bereits in 9 Jahren. Woher sollen diese Fachkräfte kommen?
Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie sind Pflege- und Betreuung weiterhin im Krisenmodus und die dort arbeitenden Berufsgruppen am Limit. Die Covid-19-Pandemie hat die seit langem gärenden Probleme schonungslos offengelegt und wir täten gut daran, uns damit auseinanderzusetzen. Dass mehr Ausbildung den Fachkräftemangel in der Pflege und Betreuung ausbremsen kann, wird von Branchenbeobachtern allerdings bezweifelt. Die Gründe liegen offenbar nicht allein am Berufsimage, sondern klar an den Arbeitsbedingungen, heißt zu wenig Geld, eine zu hohe Belastung und unzuverlässige Dienstpläne. Ich möchte bei dieser Gelegenheit Stefan Schwark, Referent für Öffentliche Kommunikation beim Deutschen Be-rufsverband für Pflegeberufe (DBfK) Nordwest e.V., zitieren, der diese Entwicklung als kata-strophal bezeichnet hat und davon ausgeht, dass wir geradewegs auf einen Kollaps zusteu-ern. Verantwortlich dafür sei der unselige Kostendruck im Gesundheits- und Sozialwesen. Pflege- und Betreuungskräfte würden oft nur als Kostenfaktor wahrgenommen, nicht als wertvolle Ressource.
Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.
Europaweit herrscht ein Fachkräftemangel, im Wipptal haben wir zudem das Problem, dass Fachkräfte nach Nord-Tirol zur Arbeit pendeln bzw. abwandern, weil die Bedingungen dort besser sind. So wird beispielsweise kein Zweisprachigkeitsnachweis verlangt und es gibt auch keine Wettbewerbe oder Ranglisten. Was müsste das Land tun, um die Mitarbeiter/Innen der Sozial- und Gesundheitsberufe in Südtirol zu halten?
Die Abwanderung der Pflege- und Sozialfachkräfte erleben wir nicht nur im Wipptal, sondern auch im Vinschgau und in anderen Landesteilen. In Nord-Tirol und der Schweiz finden die Mitarbeiterinnen aus den genannten Berufen vor allem höhere Gehälter und das ist der größte Anreiz, wenn die Mitarbeiterinnen pendeln können. Um Gesundheits- und Sozialberufe im Land halten zu können, müssen die Gehälter angehoben werden, bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen geschaffen werden sowie Aufstiegsmöglichkeiten, um die Sozialberufe auch für die Besten attraktiver zu gestalten. Zudem muss in die Ausbildung und Entwicklung der Sozialberufe investiert werden.
„Diese Billiglösungen führen zu einer Abwertung des Sozialbereiches und zu einer Abwertung der Sozialberufe im Allgemeinen."
Vonseiten der Politik wird eine niederschwelligere Ausbildung für Sozial- und Pflegeberufe ins Spiel gebracht sowie eine Abbau der Zugangskriterien. So sollten beispielsweise Frauen, die bereits Erfahrung in der Pflege eines Angehörigen gesammelt haben, die Möglichkeit für eine Ausbildung bzw. Anstellung als Pflegehelfer bekommen.
Der Sozialberuf ist eine Profession, die sich an einer fachgerechten Ausbildung und an einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert.
Was sich in jeder Krise und jedem Personalnotstand gebetsmühlenartig wiederholt, sind Rufe und Vorschläge von Führungskräften, vor allem aus den Seniorenwohnheimen, die Ausbildung zu verkürzen und niederschwellige Berufsbilder anzuregen. Dass sie damit den gesamten Sozialbereich und die Sozialberufe abwerten, scheint sie nicht stören. Interessanterweise wird diese Forderung bei anverwandten Berufen wie Krankenpflege oder Sozialassistentinnen so gut wie gar nicht erhoben. Diese „Billiglösungen“ führen zu einer Abwertung des Sozialbereiches und zu einer Abwertung der Sozialberufe im Allgemeinen. Die Sozialberufe würden so zur Resterampe der Berufswelt verkommen und zum Sammelbecken für jene, die sonst nichts finden. Das ist eine denkbar schlechte Werbung für die Sozialberufe und hat verheerende Folgen für das Gemeinwesen. So wenig es an unverantwortlichen Notlösungen mangelt, diese Probleme zu beheben, so sehr mangelt es an Mut, die Herausforderungen grundsätzlich anzugehen. Den Sozialberuf würden viel mehr Menschen ausüben, wenn anerkannt würde, was die Mit-arbeiterinnen aus den Sozialberufen für die Gesellschaft leisten. Sie fördern Hilfsbedürftige in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung, schützen sie vor Gefahren, bewahren ihr Wohl, stehen ihren Familien zur Seite. Sie erfüllen mehr als einen Job, sie erfüllen eine gesellschaftliche Funktion. Diese lässt sich nicht im Schnellverfahren erlernen, und auch nicht, weil gerade kein anderer Beruf in Sicht ist. Der Sozialberuf erfordert Talent, Klugheit, Empathie, eine gute Fachausbildung – und eine große Wertschätzung.
Ausbildung
Für die Gesundheitsberufe gibt es in Südtirol eine einzige Landfachhochschule für alle drei Sprachengruppen im Land, die „Claudiana“. Für Ausbildung der Sozialberufe gibt es in Süd-tirol, zwei Landesfachschulen für Sozialberufe, eine in deutscher („Hannah Arendt“) und eine in italienischer („E. Levinas“) Sprache. Zudem besteht Landesfachschule für Sozialbe-rufe „Hannah Arendt“ aus einem Hauptsitz in Bozen und aus zwei Außenstellen, Brixen und Meran.
Die Landesfachschulen für Sozialberufe, bieten die Ausbildungen zu den verschiedenen So-zialberufen an, und zwar in Vollzeitausbildung, berufsbegleitende Ausbildung und Teilzeit-form sowie die darauf aufbauenden Spezialisierungen und die beruflichen Fortbildungen.