In unserer Reihe „Migration ins Wipptal“ stellt sich heute Mabel Nilva Barlassina vor. Der Liebe wegen kam die gebürtige Argentinierin vor beinahe 20 Jahren nach Sterzing.
Frau Barlassina, wie sind Sie ins Wipptal gekommen?
Mabel Nilva Barlassina: Ich bin durch meinen Mann hierher gekommen. Er war seinem Kindheitstraum gefolgt und nach Argentinien gereist, um Patagonien zu sehen. Seine Mutter sprach immer von Patagonien, denn einer der Erstbesteiger des Fitz Roy, Cesare Maestri, stammte aus ihrer Gegend. Zur gleichen Zeit besuchte auch ich die berühmten Gletscher von Patagonien, 3000 km von meinem Heimatort entfernt.
Da er alleine unterwegs war und wenig Spanisch sprach, half ich ihm mit der Sprache. So wurden wir Freunde und er lud mich ein, Südtirol zu besuchen. Das war im Jahr 2002. Damals lebte ich in Rosario, einer Millionenstadt, aber geboren und aufgewachsen bin ich in einer kleineren Ortschaft, Umberto I., benannt zu Ehren des Königs von Italien und gegründet von Einwanderern aus Piemont, Friaul und der Lombardei. Bei uns zuhause sprachen alle Piemontesisch, auch meine Großmutter und mein Vater; sie lernten Spanisch in der Schule. Mitten in der argentinischen Pampa gibt es weitere Städte, die von Italienern und auch von Deutschen Ende 1800 gegründet wurden. Naturgemäß wollen wir unsere Ursprünge, Europa, kennenlernen. Ich nutzte die Gelegenheit einer organisierten Partnerstadtreise und kam nach Italien und nach Sterzing, wo er lebte.
Wir verstanden uns sehr gut, wurden ein Paar und entschieden uns, hier zu leben. Was war das für eine Überraschung, als ich sah, dass man im Winter immer das Auto von Eis und den ganzen Hof vom Schnee befreien musste! Auf den eisbedeckten Gehwegen bin ich einige Male ausgerutscht. Nach einer Weile habe ich mich an die Kälte gewöhnt und ich habe mich in diesen Ort wirklich verliebt. Für mich ist es der schönste Ort der Welt. Am Anfang, nachdem wir geheiratet hatten, war alles neu für mich. Mit der Hilfe meines Mannes musste ich vieles lernen. Ich war tagsüber allein, weil er lange arbeitete. Für mich war es ein Drama mit der Sprache, ich habe mich sehr schwer getan und es sind peinliche Situationen passiert. Ich hatte bereits einen Italienischkurs in Argentinien gemacht, aber eine Sache ist es, einen Kurs zu machen, eine andere ist der Alltag. Ich habe mich um den Haushalt gekümmert und da ich keine Kinder habe, habe ich niemanden gesehen und mein Problem war: Mit wem soll ich reden? Um jemanden zu treffen und mein Italienisch zu üben, ging ich kleine Sachen einkaufen. Nach einer Weile habe ich durch meinen Mann einige Freunde kennengelernt und ich erfuhr von einem Deutschkurs. Ich wollte mich mit den Leuten unterhalten. Den Kurs habe ich 2004 besucht. Auch traf ich da eine Frau, mit der ich Spanisch sprechen konnte. Sie hat mich an Christine verwiesen, der Ansprechpartnerin für die Deutschkurse. Wie wichtig war Christine für mich, für meine Integration! Mit ihr habe ich weitere Kurse gemacht, ich besuchte die „Zeitbank", das "Sprachencafé", aber vor allem habe ich andere Menschen kennengelernt und angefangen, neue Freundschaften zu schließen und mich mehr integriert zu fühlen. Dies war der Anfang.
„Für mich ist es der schönste Ort der Welt“
Wie sieht Ihr Leben hier aus?
Ich fühle mich hier wohl, ich bin schon seit 18 Jahren hier. Das ist mein Platz auf der Welt, muss ich sagen. Letztes Jahr saß ich wegen der Pandemie sechs Monate in Argentinien fest, und dort habe ich gemerkt, dass mein Zuhause Sterzing geworden ist. Am Anfang war es nicht einfach, denn die Lebensweise hier war anders, die Entfernungen sind kleiner im Vergleich zu Argentinien, das drei Millionen km² und 40 Millionen Einwohner hat, von denen die Hälfte in Buenos Aires lebt. Die privaten Räume sind viel größer dort, die Häuser sind Einfamilienhäuser, wie hier in den Dörfern. Ich hatte mit so vielen Regeln zu kämpfen, weil das Leben in meinem Heimatland freier ist. In Wirklichkeit habe ich später entdeckt, dass diese Regeln sehr wichtig sind für ein gutes Zusammenleben, für den Respekt vor der Umwelt, damit alles gepflegt ist und wir in Harmonie leben können.
In Argentinien klingelt man immer an der Tür, man geht oft in die Häuser der anderen, um sie zu besuchen, um gemeinsam zu essen und man wird von den Nachbarn auf einen Mate, dem traditionellen Getränk, eingeladen. In Südtirol sind die Menschen sehr zurückhaltend, niemand mischt sich beim anderen ein, aber sie sind sehr hilfsbereit. Ich habe kein Problem damit, dass die Leute hier vorsichtiger sind, wenn es darum geht, jemanden in die Wohnung zu lassen.
Wer aus dem Ausland kommt, muss sich anpassen, das finde ich richtig. Nachdem ich in einer Großstadt gelebt habe, fühle ich mich hier sicher, die Menschen sind ehrlich und es gibt keine Kriminalität. Alles funktioniert gut, fast jeder arbeitet und die Gesundheitsversorgung ist sehr gut. Ich weiß das alles zu schätzen. Die ersten Jahre habe ich Übersetzungen aus dem Italienischen ins Spanische gemacht und ich habe Privatunterricht in Spanisch und Klavier gegeben. Zum Glück konnten wir noch vor der Pandemie reisen, andere Orte kennenlernen. Normalerweise sind wir jedes Jahr im Februar nach Argentinien gefahren, wenn dort Spätsommer ist.
Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?
Ich sehe meine Zukunft in Sterzing, wenn möglich in guter Gesundheit. Mit meinem Mann gehe ich in die Berge, denn wir lieben die Natur, wir gehen gerne auf die Almen, Beeren pflücken, Rad fahren, die Natur genießen, auch im Winter. Ich habe einen aufgeschlossenen Charakter, bin spontan und neugierig. Ich war immer schon daran interessiert zu reisen und zu erfahren, wie Menschen in verschiedenen Orten der Welt leben, aber ich werde immer wieder hierher zurückkommen.
„Hier ist es immer schwierig, weil Dialekt gesprochen wird“
Wie ist es hier zu leben, was muss man wissen?
Zuerst muss man mindestens eine Sprache lernen. Mein Mann ist italienischer Muttersprache und ich hätte zuerst Deutsch lernen sollen, denn dann hätte ich automatisch Italienisch gelernt. Oft, wenn ich Deutsch spreche, brauche ich zu viel Zeit, hier ist es immer schwierig, weil Dialekt gesprochen wird, also wechsle ich und spreche Italienisch. Was mich glücklich macht, ist, dass es hier eine Bibliothek, ein Theater und andere kulturelle Aktivitäten gibt. Da ich häufig die Bibliothek besuche, kann ich Bücher auf Italienisch, Deutsch und Englisch lesen. Ich habe immer Englisch gelernt, auch während meines Studiums. Ich war Analytikerin für Computersysteme im Ministerium für Gesundheit in Argentinien. Als ich den Computer hier am Anfang eingeschalten habe, habe ich nichts verstanden. Um zum Beispiel im Krankenhaus arbeiten zu können, hätte ich nicht gewusst, wie man den Computer bedient, da ich die beiden Sprachen nicht kannte. Ohne eine Sprache kann man sich nicht integrieren. Am Anfang hat es mich etwas Überwindung gekostet, aber das, was die Gegend hier das ganze Jahr über bietet, an Landschaft und sportlichen Aktivitäten, gibt mir die Möglichkeit, ein intensives Leben zu führen.
Interview vom 30.01.2021, aufgenommen mit Unterstützung von Christine Zwischenbrugger Haller, Initiatorin des Sprachcafés in Sterzing